«Es bleibt noch viel zu tun»

    Letztes Jahr wurde der «Phoenix Award für langfristiges Schweizer Unternehmertum» zum ersten Mal an zwei Schweizer KMU – an die Glockengiesserei Rüetschi AG in Aarau und an die Destillerie Louis Morand in Martigny – vergeben. Der Phoenix Award gehört zum Gesamtkonzept der Initiative Nachfolgebus. Carla Jane Kaufmann, Initiantin des Phoenix Awards, geht es bei dieser Auszeichnung um unsere Volkswirtschaft und unsere Identität. Im Interview spricht sie über den Unternehmensverkauf, der durch Corona massiv reduziert wurde, über ungelöste Nachfolgen und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft und über KMU, die zur Knautschzone der Pandemie geworden sind.

    (Bilder: zVg) Preisübergabe an die H. Rüetschi AG am 28.10.2020: René Spielmann, Jari Putignano und Christine Kramer (v.l.) nehmen als Geschäfsleitungsteam der Rüetschi AG den Phoenix Award 2020 für langfristiges Unternehmertum in der Kategorie «Disruption/Innovation/Erneureungsfährigkeit» entgegen Überreicht wurde die Auszeichnung durch Carla Kaufmann, Initiatorin des Phoenix Award (Mitte).

    Sie sind erfahrene Expertin im Bereich Unternehmensnachfolge. Wie ist die Situation der Nachfolgeregelung in der KMU-Wirtschaft?
    Carla Kaufmann: Desaströs – und das hat zur Abwechslung nichts mit Corona zu tun. Wir bauen unnötig Wirtschaftssubstanz ab. Wir haben keine Systematik wie man Unternehmen erhalten oder andere Strukturen integrieren kann. Weder die Kantone noch der Bund haben verstanden, dass wir den Zugang zum Firmenverkauf viel besser strukturieren müssen. Dafür ist es uns über die letzten Jahre wohl zu gut gegangen. Die Rechnung werden wir über die nächsten Jahre begleichen müssen.

    Täglich schliessen in der Schweiz 14 KMU aufgrund einer fehlenden Nachfolgelösung. Auf was führen Sie diese negative Entwicklung zurück?
    Hauptsächlich sind es drei Veränderungen, die wir sehen. Es werden heute nur noch rund 1/3 der Unternehmen in der Familie weitergegeben, was früher der grösste Teil der Nachfolgen waren (rund 80 Prozent). Daneben haben wir gesellschaftliche Veränderungen, die die Haltedauer von Unternehmen verkürzen. So ist man beispielsweise nicht mehr 30 oder 35 Jahre im gleichen Unternehmen tätig, auch nicht als Inhaber. Und schliesslich haben wir strukturelle Veränderungen. So dürfen Banken weniger Fremdkapital für die Firmenkäufe vergeben. 100prozentige Fremdfinanzierungen sieht man nicht mehr, entsprechend müssen Käufer mehr Eigenmittel mitbringen oder kreativer sein hinsichtlich des Finanzierungsmodells oder ein Verkäufer muss im Kaufpreis oder der Zahlung flexibler sein und zum Beispiel ein Darlehen stehen lassen.

    Was sind die häufigsten Stolpersteine bei eine Nachfolgeregelung?
    Da gibt es einige. Beginnen wir damit, dass die Unternehmensnachfolge gar nicht angegangen wird, irgendwie im Alltag versandet oder in der gegenwärtigen Wirtschaftslage der Krisenbewältigung zum Opfer fällt. Und irgendwann ist es dann zu spät respektive es bleibt keine Zeit mehr, sinnvolle Optionen zu entdecken und zu nutzen. Vielfach wird die Nachfolge auch als ein Punkt im Tagesgeschäft angeschaut, der sich «nebenbei» regeln lässt, anstatt sie als Krönung einer Unternehmerkarriere anzusehen. Dementsprechend fehlt eine professionelle Handhabung und es mangelt an Budget und wiederum an Zeit.

    Gerade jetzt ist die aktuelle Situation durch die Pandemie für Unternehmen besonders schwierig. Raten Sie von einer Nachfolgeregelung ab oder was muss beachtet werden, dass gerade auch in der aktuellen Situation alles gut über die Bühne geht?
    Der Unternehmensverkauf ist durch Corona massiv reduziert worden. Verkäufer haben nach wie vor ihren Unternehmenswert von 2019 im Kopf, während Käufer auf den Abschluss 2020 warten. Was man auf dem Markt beobachten kann ist, dass ein Teil des Kaufpreises mittels Gewährleistungen oder einer Earnout Klausel (Abzahlung über den Kommenden Umsatz oder Gewinn) auf beide Parteien verteilt wird. Damit verteilt sich das Risiko der Nach-Covid Zeit auf beide Parteien. Wir raten allen Verkäufern, die sowieso in der Planung sind, es durchzuziehen und sich über entsprechende Modelle zu informieren.

    Sie haben die Initiative «Nachfolgebus» ins Leben gerufen. Welche Idee steckt dahinter?
    Die Initiative hat das Ziel die Unternehmensnachfolge für jedes Unternehmen einfach zugänglich zu machen. In der Nachfolge ist der erste Schritt, wie so oft, der schwierigste. Indem wir mit einem Bus in die Regionen hinausfahren, bieten wir Unternehmerinnen und Unternehmern eine niederschwellige kostenlose Möglichkeit, sich umfassend über den Prozess der Unternehmensnachfolge zu informieren und auf diesem Wege die «Berührungsängste» mit dem Thema abzubauen. Dafür stehen unsere Expert/innen den Firmeninhaber/innen mit kostenlosem Rat und Tat zur Seite und unterstützen diese dabei einen Einstieg und eine Auslegeordnung für ihre eigene Nachfolgeregelung zu finden.

    Welche Erkenntnisse haben Sie aus der «Nachfolgebus Tour 2020» gewonnen?
    Wir haben bereits 2019 entschieden, den Nachfolgebus zu digitalisieren und Online-Gespräche mit Nachfolge-Experten anzubieten. Ich war 2019 selbst skeptisch, ob Unternehmer ein virtuelles Gespräch nutzen würden. Corona hat diesbezüglich zu einem blitzschnellen Wandel geführt. Heute muss man niemandem mehr erklären, was ein Zoom Call ist und wie das geht. Wir haben in dem Bereich einen Quantensprung vollzogen und glauben, dass wir damit genau dem Zeitgeist entsprechen, was sich in der sehr guten Resonanz zeigt. Denn ein Firmenverkauf lässt sich von einem Lockdown wohl verzögern, aber nicht aufhalten.

    Letztes Jahr wurde der «Phoenix Award» zum ersten Mal überreicht. Sie sind die Initiantin dieser Auszeichnung. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen und was steckt dahinter?
    Der Phoenix Award gehört zum Gesamtkonzept der Initiative Nachfolgebus. Im März publizieren wir in unserem ebenfalls in 2020 erstmals lancierten und nun jährlich erscheinenden «Nachfolgemagazin» die 100er Liste. Darin werden alle Unternehmen aufgeführt, die vor 100 Jahren, also in diesem Jahr 1920, ins Schweizer Handelsregister eingetragen wurden. Zwei Prozent der Unternehmen, die 1920 eingetragen wurden gibt es heute noch. Warum? Wieso haben es genau diese zwei Prozent geschafft und was machen sie anders. Wir möchten nebst den höchst faszinierenden und spannenden Geschichten, die wir so erzählen können, auch verstehen, was genau diese Unternehmen so besonders und so nachhaltig macht. Wie haben es diese Unternehmen durch den Weltkrieg, eine Wirtschaftskrise und diverse andere Herausforderungen geschafft. Was heisst nachhaltiges Unternehmertum überhaupt und wie lebt respektive erlebt man das?

    Wieso wurden gerade die Glockengiesserei Rüetschi in Aarau ausgezeichnet?
    Unser Kriterium war, wir schauen alle Unternehmen an, die 1920 ins Handelsregister eingetragen wurden. Darunter waren auch die Preisträger. Obwohl beide älter sind und die Glockengiesserei zuvor 500 Jahre bereits als einfache Gesellschaft existiert hat.
    Die Glockengiesserei Rüetschi AG hat den Preis im Bereich der Erneuerungsfähigkeit gewonnen. Das Unternehmen wurde 1357 gegründet, ist heute als Glockengiesserei (die einzige in der Schweiz) tätig und hat darüber hinaus zwischenzeitlich erfolgreich einige weitere Geschäftsfelder entwickelt wie die Gebäudeautomation und den Industrieguss. Dort entwickelt Rüetschi «ganz nebenbei» das Gehäuse für die Mars Mission der NASA, weil es eines der wenigen Unternehmen ist, dass diese Guss- und Härtetechnik überhaupt beherrscht. Sie werden auf der ganzen Welt kaum Unternehmen finden, die so alt sind und soviel Veränderungen nebst dem Erhalt von altem Wissen gemeistert haben.

    Der Phoenix Award 2020 steht für ein langfristiges Unternehmertum. Wie solide stehen denn unsere Unternehmen da?
    86 Prozent der KMU sind Kleinst-Unternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitenden. Viele Eigentümer dieser Firmen reduzieren in einer Krise als erstes ihren Lohn. Der Eigentümerlohn ist die elastische Komponente in diesem System. Ich höre oft von Banken, dass die Unternehmerinnen und Unternehmer viel mehr in die Altersvorsorge hätten einbezahlen sollen und nicht soviel Liquidität hätten halten sollen. Meine Antwort hierauf ist: «Dafür haben sie gut geschlafen in der Zeit». Das Unternehmen bildet einen elementaren Bestandteil der Altersvorsorge und sein Verkauf ist Teil davon. Viele Unternehmen haben es so geschafft, eine gewisse Sicherheit zu halten, Rückstellungen zu machen. Die aktuelle Krise hat diese massiv abgebaut. Unsere Unternehmen standen solide da. Viele haben mit Unternehmensgewinnen in Immobilien investiert und sich so ein diversifiziertes Geschäftsmodell aufgebaut.

    Was wünschen Sie sich persönlich für die Schweizer KMU-Wirtschaft?
    Die KMU sind die Knautschzone der Pandemie geworden, das kann man nicht schönreden. Unter diesem Aspekt sollte man sich vergegenwärtigen, dass im öffentlichen Sektor in der Schweiz im Median 7’970 Franken pro Monat pro Mitarbeitenden verdient wird und im privaten Sektor 6’248 Franken. Auf 13 Monate hochgerechnet verdient man im öffentlichen Sektor im Median also 22’386 Franken respektive 21 Prozent pro Jahr mehr, als im privatwirtschaftlichen Sektor. In der Kuppel des Bundeshauses steht «Einer für alle, alle für einen.» Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, soviel Substanz wie nur möglich über diese Krise hinaus zu erhalten und nicht wieder neu aufbauen müssen – das hatten wir schon. Ich wünsche mir, dass Unternehmen und Unternehmer sich zusammentun, kollaborieren, wo es Sinn macht, und so ihren Fortbestand ermöglichen. Ich wünsche mir, dass der öffentliche Sektor versteht, was dieser Effort und diese Krise 2020 für die Privatwirtschaft wirklich bedeutet – finanziell, existenziell und psychologisch – und, dass die nötigen Massnahmen zur Stabilisierung und zum Erhalt unserer Wirtschaft ergriffen werden.

    Interview: Corinne Remund


    Carla Jane Kaufmann

    Carla Jane Kaufmann (40) ist Hauptaktionärin und Verwaltungsrätin der Companymarket AG. Ihre Firma ist die grösste unabhängige Vermittlungsplattform für die Nachfolge in KMU und grösseren Unternehmen in der Schweiz. Etwa 70’000 bis 80’000 Firmen stehen in den nächsten fünf Jahren vor diesem Schritt. Ergänzend zur Companymarket AG gründete Carla Jane Kaufmann deshalb im 2013 den Verein geschäftsfrau.ch, um mehr Diversität in die Unternehmensnachfolge zu bringen. Kaufmann wuchs in einer Unternehmerfamilie auf und hat die Universität St. Gallen mit dem M.A. in Law abgeschlossen. 2016 beteiligte sie sich zudem an der GetDiversity GmbH, einer der erfolgreichsten Board Search Firmen der Schweiz. Denn Teams mit der «richtigen» bzw. einer smarten Zusammensetzung realisieren Visionen und schreiben erfolgreiche Unternehmensgeschichten. Carla Jane Kaufmann über sich: «Ich vermittle und verbinde – über Generationen, Geschlechter sowie die digitale und analoge Welt hinweg.»

    CR

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